1993 zog ich nach Deutschland. 1990 hatte ich in Göteborg mein Diplom als Socionom (in etwa Sozialpädagogin) gemacht, verfügte über etwas Berufserfahrung, war sehr verliebt und sah nirgendwo ein Problem. Über das Bewerbungsverfahren, die Art Vorstellungsgespräche abzuhalten, die Dramen über meine Arbeitserlaubnis und die Anerkennung meines Studiums werde ich heute nicht schreiben, das ist kein Thema für eine Kolumne, sondern eher für ein bewegendes Selbsterfahrungsbuch, vielleicht mit dem Titel „Wie ich lernte Deutschland zu verstehen“ oder „Deutschland und ich – eine komplizierte Beziehung“.
Meine erste Arbeitsstelle in Deutschland war ein Jugendtreff im sozialen Brennpunkt Haste in Osnabrück. Davor hatte ich in einer Jugendberatung im Speckgürtel von Göteborg gearbeitet, stellte aber schnell fest, dass die Probleme Heranwachsender die gleichen waren: Eltern verstehen nichts, Freundschaften sind schwierig und die Liebe sowieso.
In der Jugendberatung riefen die Speckgürtelkinder an und machten einen Termin aus, um mit mir zu sprechen. Dann kamen sie am richtigen Tag in die Praxis und saßen brav im Warteraum, bis sie aufgerufen wurden. Eine Stunde lang sprachen wir über ihr Problem und wenn es in einer Stunde nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte, machten sie einen neuen Termin. Im sozialen Brennpunkt spielte ich Kicker und Kniffel mit den Jugendlichen und sprach eher nebenbei über Probleme. Ich lernte die Momente zu nutzen, wenn sie ansprechbar waren und ließ mich nicht dabei stören, falls jemand dabei war, eine Große Straße zu werfen.
Das größte Thema im Beratungsraum und im Jugendtreff war die Liebe. Als sich in einem der Kniffel-Gespräche eine passende Gelegenheit bot, rannte ich schnell zu einer meinem Kollegen, um mich zu erkundigen, wo sie den „Verhütungskoffer“ aufbewahrten. „Den waaaas??“ sagte der Kollege ungläubig. Ich dachte, ich hätte das falsche deutsche Wort verwendet, erklärte, was ich meinte und fügte hinzu „Vielleicht habt ihr die Kondome und den Holzpenis nicht in einem Koffer, sondern in einer Box?“ Er zischte mir zu, „Darüber reden wir später“. Als ich zurückkehrte, war das Gespräch der Jugendlichen schon ganz woanders und ich ärgerte mich über die verpasste Gelegenheit, mit ihnen über verantwortungsvoll verhütete sexuelle Erfahrungen zu sprechen.
Mein Kollege erklärte mir am nächsten Tag, dass er schon seit acht Jahren im Jugendtreff arbeitete und nie über Verhütung gesprochen hätte. Ich antwortete, dass das vermutlich mehr über ihn aussagen würde, als über das Bedürfnis der Jugendlichen, und – Ihr habt es erraten – wir wurden nie Freunde.
In der Jugendberatung in Schweden hatte ich gelernt, den jungen Menschen die Einstellung zu vermitteln, dass einvernehmlicher Sex etwas Natürliches und Schönes ist und möglichst verantwortungsvoll und verhütet sein sollte. Alkohol und Drogen aber, davon sollten sie die Finger lassen! Falls jemand beim Kiffen erwischt wurde, gab es das ganz große Besteck: Eltern, Schule, Sozialdienst.
Meine Osnabrücker Kollegen aber duldeten ein gewisses Maß an Alkohol. „Sie müssen lernen, damit umzugehen“ sagten sie, und manche drückten auch ein Auge zu, wenn ein Joint die Runde machte. Aber mit Jugendlichen über Sex zu sprechen, fanden sie, lag außerhalb unserer Verantwortung.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Sex ist etwas ganz Heikles und soll am besten verschwiegen werden, aber Alkohol gehört zum Leben und dabei müssen wir den Jugendlichen Unterstützung geben? In der Maslowschen Bedürfnishierarchie befinden sich Luft, Essen, Wasser, Schlaf und Sex auf der ersten Stufe, aber ich konnte mich nicht erinnern, von Alkohol als einem menschlichen Grundbedürfnis gehört zu haben.
Das Thema Grundbedürfnisse beschäftigte mich weiterhin sehr. Als ich mit dem Freundeskreis meines Freundes essen war, eigene Freunde hatte ich noch nicht, fragte ich nach ihrer Meinung. Mein Freund, der heute mein Mann ist, sah geschockt von seinem Teller auf und falls ich näher bei ihm gesessen hätte, hätte ich vermutlich kein Schienbein mehr gehabt. Einer der Freunde sagte schlagfertig: „Bei den Alkoholpreisen in Schweden ist es doch kein Wunder!“ Und das Thema war vom Tisch.
Bei mir war aber gar nichts vom Tisch. Als ich beim „Schwedischen Klub“ war, sprach ich das Thema erneut an. Der Schwedische Klub in Osnabrück bestand aus einigen Schweden und Deutschen, die sich einmal im Monat trafen um Tee mit Rum zu trinken und Schwedisch zu sprechen. Ich hatte erhofft, endlich das Thema ausdiskutieren zu dürfen, um es zu verstehen. Aber als eine Frau sagte, sie hätte viel lieber, dass ihre 19-jährige Tochter mal einen über den Durst trinken würde, als dass sie mit ihrem Freund schlafen würde, wusste ich, dass es nichts werden würde, mit der Diskussion.
Heute haben wir 2022 und vieles hat sich verändert, aber ich finde die Einstellung zu Alkohol ist in Schweden und Deutschland sehr verschieden geblieben. In Schweden darf Jugendlichen erst ab achtzehn Jahren im Restaurant Alkohol serviert werden, und selbst kaufen dürfen sie ihn erst mit zwanzig. Alkohol gibt es sowieso nur im Systembolaget zu kaufen, und ob die Schweden heute „südländisch“ trinken können und somit das „Brännvinsbältet“ verlassen haben, kann ich nicht wirklich beantworten. Aber eins ist klar: Zu den Grundbedürfnissen eines Menschen gehört er nicht!
Es gibt den noch: profamilia.de: Verhütungskoffer
Brännvinsbältet?
Damit meint man hauptsächlich Skandinavien und Russland, wo viel harter Alkohol getrunken wird. Wo es kalt ist, muss man halt mehr trinken!