95 Tote im Jahr. So viele Menschen sterben in Schweden jährlich durch Gewaltverbrechen: Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge. Die Zahl aus der Statistik ist seit vielen Jahren konstant. In einer Bevölkerung von etwas mehr als Neun Millionen erscheint mir das nicht so übermäßig viel. Seit ungefähr 20 Jahren ist die Zahl der Ermordeten sogar etwas rückläufig.
Was in dieser Zeit nicht rückläufig war, ist die Anzahl der schwedischen Kriminalromane. In den letzten 20 Jahren sind die schwedischen Krimiautoren überhaupt nicht der allgemeinen Mordstatistik gefolgt. Der Anzahl der Krimis sind in der Zeit schier explodiert. Fast jede einzelne Gewaltleiche in Schweden hat einen eigenen Krimi. Kein Land scheint gefährlicher für Leib und Leben als Schweden: es wird gemordet, was das Zeug hält. Jede noch so kleine, unbedeutende Kleinstadt mit Selbstachtung, von Ystad im Süden bis Kiruna im Norden, hat einen eigenen Kommissar oder eine Kommissarin, einen Rechtsanwalt, eine Psychologin und manchmal einen Journalisten, mit Nase für besondere Todesfälle. Sie spüren den Abgründen des schwedischen Landlebens nach und es gibt keine Kindesentführung, keinen Lustmord und keine Vergewaltigung mit anschließender Strangulierung, die sie nicht aufdecken. Falls man der Literatur Glauben schenkt, ist Schweden ein Land durchgeknallter Serienmörder. Nichts da mit Bullerbü! In jedem schwedischen Brunnen kann eine verweste Leiche erwartet werden und in jedem verlassenen Haus kann ein bestialisch zugerichteter Familienvater liegen.
Schwedische Krimis sind in Deutschland so beliebt, dass sie häufig sogar ein eigenes Regal in den Buchläden haben. Die schwedischen Krimis, zumindest wenn sie gut und ambitioniert sind, haben ein Auge auf die Gesellschaft, sie zeigen das, was man Zeitgeist nennen könnte. Es scheint sich das Genre „Kriminalroman“ anzubieten, wenn man von Missständen in der Gesellschaft erzählen will.
Natürlich wollen wir Leser eine spannende Kriminalgeschichte, aber wir brauchen auch einen Held, den man so richtig kennenlernen kann, mit seinen Macken, mit seiner Persönlichkeit. Die Juristin Rebecka Martinsson der Schriftstellerin Åsa Larsson zum Beispiel, keiner kann sich so einigeln wie sie. Obwohl sie in der Hauptstadt sehr erfolgreich war, zieht sich Rebecka mit ihrem Hund in das Haus ihrer verstorbene Oma in Kiruna zurück und beantwortet nur sparsam die SMS ihres Anwalt-Freundes in Stockholm. Und heimlich hoffen wir Leser dass sie sich von ihm trennt und sich in den brandverwundeten Hundepolizisten in der Nachbarschaft verliebt. Oder nehmen wir einen Helden wie den Hardcorepolizisten Erik Winter in den Krimis von Åke Edwardsson. Nie war Göteborg schwärzer und gefährlicher als in dieser Serie! Aber Erik Winter lässt sich nicht von seiner Berufung abbringen, auch nicht, nachdem seine Frau entführt wurde oder ein Attentat auf seine Kinder gerade noch missglückte. Erik Winter ermittelt unverdrossen weiter.
Nebenbei erfährt man ein bisschen von dem Leben in der schwedischen Großstadt oder der schwedischen Provinz und man darf am Leben von jemand Anderem schnuppern…
Die Wurzeln des so genannten „Schwedenkrimis“, wie wir ihn kennen, sind schon in den 60er Jahren in den Büchern von Maj Sjöwall und Per Wahlöö zu finden. Ihr erstes gemeinsames Buch veröffentlichten sie 1965: „Roseanna“. In Deutschland kam es als: „Die Tote im Götakanal“ 1968 auf dem Markt. Es ist das erste Buch in der Serie mit Kriminalkommissar Martin Beck und seinen Kollegen in Stockholm. Neun weitere Bände sollten folgen, bis die Reihe 1975 komplett war. Die Zahl Zehn hat sich bei vielen schwedischen Krimiautoren als eine passende Anzahl in einer Serie etabliert. Henning Mankell hat zum Beispiel ebenfalls zehn Bände über Kurt Wallander geschrieben.
In Schweden gibt es seit 1971 die Deckarakademi (zu Deutsch: Krimiakademie). Sie versteht sich als nicht so ernst zu nehmendes Pendant zur höchstseriösen Schwedischen Akademie aus dem Jahr 1786. Da die Schwedische Akademie jedes Jahr den Literaturnobelpreisträger aussuchen darf, wollte die Deckarakademi nicht nachstehen. Sie verteilen jährlich Preise für den besten schwedischen Krimi und für den besten übersetzten Krimi.
Wie es aussieht, lieben nicht nur die Deutschen schwedische Krimis, die Schweden tun es auch!