Majgull Axelssons Roman „Ich heiße nicht Miriam“ ist 2014 in Schweden unter dem Namen „Jag heter inte Miriam“ im Brombergs Bokförlag erschienen . Nur ein Jahr später hat Ullstein das Buch auf den deutschen Markt gebracht, in einer feinfühligen Übersetzung von Christel Hildebrandt.
Die Journalistin Majgull Axelsson ist ein Fixstern am schwedischen Literaturhimmel. Seit ihrer ersten Romanveröffentlichung 1994 hat sie zahlreiche Preise bekommen und ist in 23 Sprachen übersetzt worden. Was ihre Werke besonders macht, ist, dass sie für ihre Romane recherchiert wie eine Journalistin, als würde sie einen Artikel schreiben. Der Hintergrund stimmt also, aber die Personen sind fiktiv.
In dem Roman „Ich heiße nicht Miriam“ dürfen wir das junge Romnimädchen Malika kennenlernen und erfahren, wie sie zu der Jüdin Miriam aus gutem Hause werden konnte. Ihr Weg führt über ein katholisches Kinderheim, die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, und dann schließlich nach Kriegsende, mit den weißen Bussen nach Småland in Schweden, wo sie auch bleibt und alt wird. Malika / Miriam ist ein „Survivior“- Sie peilt die Lage und passt sich an: sowohl im Lager als auch bei ihrer „Ziehmutter“ Hanna in Schweden und in der Ehe mit dem Zahnarzt Olof. Niemals verrät sie, was sie denkt oder fühlt, nicht mal, wer sie wirklich ist. Als sie an ihrem 85. Geburtstag ein Armband mit dem eingravierten Namen „Miriam“ von ihrer Familie bekommt, schlüpfen ihr die verhängnisvollen Worte „Ich heiße nicht Miriam“ über die Lippen. Das wird der Anlass zu einer Reise in die Vergangenheit, teilweise begleitet von der Enkeltochter Camilla.
Die Handlung spielt wechselweise in den Konzentrationslagern des zweiten Weltkrieges, wo es einen Tag nach dem anderen irgendwie zu überleben galt, im unschuldigen Schweden nach dem Krieg, wo es niemals Hunger gegeben hat, und im Heute, wo Miriam eine betagte Dame ist, die immer noch auf ihr Äußeres achtet.
Im Zug zwischen Auschwitz und Ravensbrück wird aus dem Romamädchen Malika die Jüdin Miriam. Malikas Kleid wird bei einer Rangelei zerrissen, und um Schläge dafür zu vermeiden, stiehlt sie einem toten Mädchen ihr Kleid. Das Kleid von Miriam Goldberg ist mit einem gelben Stern versehen, und so wird Malika Jüdin. Sie merkt, dass Jüdinnen einen besseren Status unter den Gefangenen haben, als die Roma, und um nicht aufzufliegen, zerkratzt sie ihre eingebrannte Nummer am Handgelenk, so dass sie zur Kleidnummer passt.
Das erste Mal, als ich das Buch las, auf Schwedisch, Ende 2014, dachte ich sehr über die Identität eines Menschens nach. Wie werden wir denn, wer wir sind? Können wir uns verändern? Sogar neu erfinden? Besonders dachte ich über meine eigene Großmutter nach, die in den frühen 30-iger Jahren aus Berlin nach Schweden auswanderte. Sie hat immer nur sehr ausgewählt erzählt, von ihrer Kindheit und Jugend, wenn wir Enkel etwas fragten. Wenn sie nicht antworten wollte, hat sie entweder „Das weiß ich nicht mehr!“, oder „Das ist alles im Krieg verloren gegangen“, gesagt. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie Geheimnisse hatte, die sie uns nicht verraten wollte. Das zweite Mal, als ich das Buch las, auf Deutsch, Anfang 2016, beschäftigte mich viel mehr die Flüchtlingsproblematik: Flüchtlinge scheint es immer noch erster und zweiter Klasse zu geben. Die Jüdin Miriam durfte in Schweden bleiben, 1945, und sich ein Leben aufbauen, aber als die Roma Malika wäre sie nicht einmal in den weißen Bus gelangt. Die Paralellen zur heutigen Flüchtlingspolitik sind nicht von der Hand zu weisen: Geflüchtete aus Kriegsgebieten wie Syrien dürfen bleiben, aber die „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Afghanistan sollen zurück.
Miriam gerät in die sogenannten „Zigeunerkrawalle“ in Jönköping, die sich tatsächlich 1948 dort abspielten, und das hat Majgull Axelsson natürlich genau recherchiert. Sie schildert die bedrohliche Stimmung sehr eindrucksvoll und es lässt vermutlich nicht nur mich an die heutigen Pegida-Menschenaufläufe in Leipzig und anderswo denken. Besonders eine Situation hat mich mitgenommen, als Miriam fünf „Halbstarke“ in der kleinen, abgelegenen Straße Smedjegatan entgegenkommen. Sie machen ihr furchtbare Angst, und Miriam fängt an zu beten, wie sie es im Kloster lernte. „Aber Gott war nicht anwesend. Das hätte sie wissen müssen. Gott war fast nie anwesend gewesen, wenn sie um seine Hilfe gefleht hatte.“ Miriam dürfte da noch mal gespürt haben, was sie das Leben gelernt hatte, nämlich nur sich selbst zu vertrauen und nie, niemals, sich auf andere zu verlassen. Nicht mal in Schweden gab es die Sicherheit und die Freiheit, nach der sie sich in den Lagern gesehnt hatte.
Es ist selten, dass ich ein Buch sowohl im Original auf Schwedisch lese und dann noch mal in deutscher Übersetzung. Noch seltener ist es, dass ich die deutsche Fassung lese, ohne dass ich darüber nachdenke, wie es wohl auf Schwedisch klingen würde. Ich war das zweite Mal genauso in der Geschichte gefangen, wie das erste Mal, und das mag vielleicht daran liegen, dass das Thema mich bewegt hat, und dass es brandaktuell ist, aber auch an Christel Hildebrandts fantastischer Übersetzung. Christel Hildebrandt gelingt es, die Tiefe und die vielen Facetten der Romanfiguren in der deutschen Fassung zu bewahren. Sie überträgt urschwedischste Situationen so geschickt, dass sie auf Deutsch kein bisschen komisch oder seltsam klingen.
Das Buch ist absolut empfehlenswert. Lese es einfach, auf Schwedisch oder Deutsch, es ist total egal.
/carina middendorf