Jahreszeittaubheit oder wenn die Assimilierung zu weit geht

Mittlerweile lebe ich länger in Deutschland als in Schweden. Ich kam mit zarten siebenundzwanzig Jahren und war vom Leben in Osnabrück gleichermaßen beeindruckt und verwundert. Nun bin ich siebenundfünfzig, lebe in Hamburg und habe mich an das deutsche Leben gewöhnt.

Dass man am Sonntag nicht einkaufen kann, dass der Karfreitag mit einem Tanzverbot belegt ist und dass man auf der Autobahn so schnell fahren kann, wie es das Auto hergibt, haut mich nicht mehr um. Manches davon finde ich gut, manches ist mir egal, anderes finde ich bescheuert, aber wundern, das tut es mich schon lange nicht mehr.

Bis vor kurzem habe ich gedacht, dass es Bereiche gibt, die dreißig Jahre Deutschland nicht beeinflusst haben. Das Gefühl für den Frühling, zum Beispiel. Ich freue mich jedes Jahr aufs Neue, dass in Hamburg sowohl die Krokusse, als auch die Schneeglöckchen, sehr viel früher ihre Köpfchen gegen die Sonne strecken, als in Västergötland, wo ich aufgewachsen bin.

Als wir 2003 in ein Reihenhaus in Wandsbek zogen, brauchte ich mehrere Jahre, bis ich verstanden hatte, wann löjtnantshjärtan gepflanzt werden müssen. Bei meiner Oma blühten sie erst so richtig, als wir schon fast Sommerferien hatten, aber wenn mir Anfang Juni in Hamburg die kleinen rosafarbigen Blühten einfielen, war die Saison hier längst vorbei. Dass ich heute tatsächlich welche habe, verdanke ich meiner Freundin Britta. Sie hat mir eines Tages welche vom Markt mitgebracht, weil sie das Trauerspiel leid war, dass ich ihr jedes Jahr die Ohren volljammerte, das Zeitfenster von löjtnantshjärtan schon wieder verpasst zu haben.

Meine Theorie ist also, dass die ersten siebenundzwanzig Jahre für einen Mensch so prägend sind, für das Gefühl der Jahreszeiten, dass daran nicht mehr zu ruckeln ist. Dreißig Jahre im Ausland hin oder her, ich bin jedes Jahr begeistert, dass der See im September noch warm ist und dass die Notwendigkeit von dubbdäck gar nicht vorhanden ist.

Laut meiner eigenen Theorie hätte ich also den Schnee in Svenljunga im März diesen Jahres nicht als Beleidigung auffassen müssen. Ich hätte mich auch nicht über die fehlenden Buschwindröschen beschweren dürfen und definitiv nicht anfangen sollen, bei ICA nach frischem Spargel Ausschau zu halten.

Aber all das habe ich trotzdem getan. Der Schnee war ein Affront gegen mich. Das einzig Weiße, was ich in der Natur Ende März ohne zu mucken akzeptiert hätte, wären Buschwindröschen gewesen. Und ist es zu viel verlangt, zu Ostern frischen deutschen Spargel essen zu dürfen?

Vermutlich ist die Assimilierung doch in alle Lebensbereiche eingedrungen. Ich rege mich nicht mal mehr auf, wenn ich die Bettwäsche wechsele. Mir fehlen die kleinen Löcher rechts und links oben im påslakan die es den Schweden leicht machen, die Decke glatt in den Bezug zu bekommen, überhaupt nicht. Ich habe keine Ahnung, wo der Käsehobel ist und finde 42 Gramm-Hefewürfel total normal. Aber wenn ich anfangen würde, Currywurst zu essen und Knödel zu mögen, dann Leute müsst ihr eingreifen!

Meine Assimilierung hört beim dem Essen auf, wenn ich anfange Currywurst und Knödel lecker zu finden, ist die Anpassung zu weit gegangen – dann habe ich meine Persönlichkeit verloren!

Vokabelhilfe

ett löjtnantshjärta, -n                 Tränendes Herz

ett dubbdäck, –                          Winterreifen mit Spikes

ett påslakan, –                            Bettbezug