Freie Fahrt für freie Bürger

 

Die Hitzigkeit in der Diskussion über deutsche Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der Autobahn überrascht mich jedes Mal aufs Neue. Für die Schweden ist es schlicht unvorstellbar mit dem Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ zu punkten. In unseren Ohren klingt es eher wie kollektiver Selbstmord – und unregulierte Lebenslagen riechen für uns immer ein bisschen nach Chaos und das macht sowieso Angst.

Trafiksäkerhet ist so was wie das elfte Gebot, in der säkularisierten Sichtweise der Welt im Norden vielleicht sogar das erste. Nollvision, staatlich geprüfte Kindersitze, die auf jeden Fall so lange wie möglich gegen die Fahrtrichtung platziert sein sollen, die Nutzung von Reflektoren ab Einbruch der Dämmerung und der obligatorische Fahrradhelm für Kinder unter zwölf Jahren per Gesetz und für alle anderen per moralischer Pflicht, sind keine fremden Begriffe sondern haben eine lange Tradition.

Als ich Kind in den 70-igern war, gab es im Fernsehen eine Sendung, die Kinder trafikvett lehren sollte. Dort gab es eine kleine Marionette mit piepsiger Stimme, Televinken, mit ihrer „Mutter“ Anita. Zwischendurch sangen Kinderchöre unvergessliche Sätze wie „innan du går över gatan, se åt båda hållen“. Die Sendung sass so tief in meinem Rückenmark (oder wo auch immer), dass ich dies spontan meinen Kinder vorsang, jedes Mal, wo wir auch nur in der Nähe von einem Zebrastreifen waren. Zumindest meine Tochter hat es aufgenommen, da ein Erzieher im Kindergarten mal fragte, was sie da so auf Schwedisch brabbeln würde, jedes Mal, wenn sie die Strasse überqueren würden. Es ist nicht überliefert, ob sie wirklich wusste, was sie da sagte oder ob sie glaubte, es war so etwas wie ein Zauberspruch, den man immer am Strassenrand aufsagen musste. Aber auf jeden Fall hatte sie deutlich mehr Nutzen von der Aufforderung, auf grön gubbe zu warten, als mein kindliches Ich auf dem Dorf. Anita lehrte der übereifrigen Televinken, auf dem Weg zum Spielplatz stehen zu bleiben, wenn die Ampel rot zeigte und das brachte ich auch meinen Kinder auf dem Weg zum Spielplatz bei. In meinem Dorfleben in den 70-igern gab es weder Ampeln noch Spielplätze, die wir täglich besuchten. Wir haben einfach draußen im Garten oder im Wald gespielt und um dahin zu kommen, war die Verkehrslage nicht wirklich beachtenswert.

In der Fahrschule, als ich schon in einer Stadt wohnte, war das Einhalten der Fahrtbegrenzungen genauso selbstverständlich wie Kupplung und Gas auseinander zu halten. Außerdem haben wir gelernt, auf Eis zu fahren und Elchen auszuweichen (und da war der Elchtest von Mercedes noch nicht mal erfunden).

Dass es ein Recht für Bürger geben würde, so schnell zu fahren, wie sie wollen, haben wir nicht gelernt. Wir haben in Schweden ja schließlich nicht so viel Autobahnen, es gibt mehr Landstrassen und kurvige Waldwege, wo das Elche-Ausweichen schon deutlich wichtiger ist, als „so schnell wie ich will“ fahren zu dürfen. Nicht mal, wenn es erlaubt wäre, würde jemand das machen. Es geht einfach nicht, schnell zu fahren, wenn nach der nächsten Kurve ein Trecker mit Tempo 30 auf dich warten könnte.

Ich habe im Radio gehört, das es tatsächlich Menschen gibt, die meinen, dass die Strasse ihre letzte Freiheit im Leben darstellt und da soll sich kein Staat einmischen. Die 3285 Verkehrstoten im Jahr 2018 können dazu nichts mehr sagen. Und bei den 309 000 Unfällen mit Personenschaden im letzten Jahr hatten bestimmt nicht alle mit der Geschwindigkeit zu tun*.

Nicht nur Deutschland und die Deutschen hängen an „Freie Fahrt für freie Bürger“, sondern es gibt andere Staaten, die es genauso sehen. Nordkorea zum Beispiel, da gibt es auch keine Geschwindigkeitsbegrenzungen und die Freiheit des Menschen ist dort sowieso das höchste Gut, nicht wahr?

/carina

 

  • trafiksäkerhet – Verkehrssicherheit
  • nollvision – die Vision ist eine NULL in der Statistik bei Verkehrstoten im Jahr, ähnlich wie das Streben nach der schwarzen Null in der deutschen Finanzpolitik
  • trafikvett – Wissen darüber, wie man sich im Verkehr benimmt
  • innan du går över gatan, se åt båda hållen“ – bevor du die Straße überquert, schau in beide         Richtungen.
  • grön gubbe – das grüne Ampelmännchen, das sagt, dass du jetzt gehen darfst

 

 

Anita & Televinken im Netz

https://sv.wikipedia.org/wiki/Anita_och_Televinken

https://www.youtube.com/watch?v=qCtMO146RXA

* Quelle: https://www.adac.de/der-adac/verein/aktuelles/bilanz-verkehrstote/